Die Verlierer des polnischen Wunders
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Das EM-Gastgeberland Polen boomt dank eines rigorosen Modernisierungskurses. Doch der Aufschwung fordert Opfer. Viele Menschen fühlen sich im Stich gelassen, alte Leute klagen über niedrige Renten, steigende Mieten machen das Leben teuer. Die Wut wächst.
Ihr Gesicht ist von Hunderten kleinen Falten zerfurcht, doch wie eine arme Frau sieht Barbara Przybyz nicht aus. Die 83-Jährige trägt eine gepflegte Dauerwelle und eine lila-weiße Bluse, über ihrem Arm baumelt eine schwarze Handtasche. Sie habe als einfache Angestellte bei einer großen Bank in Breslau gearbeitet, erzählt sie. Viel geblieben ist ihr im Alter nicht. Gerade einmal 1000 Zloty Rente erhält sie im Monat – umgerechnet gut 250 Euro. “Ohne die finanzielle Unterstützung meiner Tochter könnte ich nicht überleben.”
Es ist ein heißer Tag Mitte Mai. Barbara ist mit dem Bus aus Breslau nach Warschau gekommen, um vor dem polnischen Parlament zu demonstrieren. Organisiert hat die Fahrt die Gewerkschaft Solidarnosc. Die legendäre Arbeitnehmerorganisation, die einst den Sturz des kommunistischen Regimes betrieb, hat einige hundert Menschen aus ganz Polen hierhergekarrt. Sie sollen gegen die geplante Rentenreform demonstrieren, die die Abgeordneten drinnen im Sejm wenig später beschließen werden.
Bald könnten es noch mehr werden. Denn die Regierung plant ein neues Gesetz, dass Zwangsräumungen erleichtern soll, wenn kommunale Gebäude an ihre ehemaligen Eigentümer übertragen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der polnische Staat viele Grundbesitzer enteignet und auf den Flächen neue, kommunale Wohnhäuser errichtet. Seit einigen Jahren melden sich immer mehr ehemalige Eigentümer und wollen ihre Grundstücke zurückhaben – zusammen mit den Häusern. Die Stadt Warschau überträgt sie ihnen und auch anderen privaten Investoren. So werden aus kommunalen private Wohnungen, mit allen Konsequenzen.
“Wenn der neue Besitzer die Preise erhöht, landen die alten Mieter unter der Brücke”, sagt Marek. Nur den Ärmsten der Armen biete die Stadt eine andere Wohnung an. Die übrigen müssten sehen, wo sie bleiben. Das liege auch daran, dass seit Jahren zu wenig Sozialwohnungen gebaut werden. “Die Idee des sozialen Wohnens wird pervertiert”, schimpft er.
Hier in Praga zeigt sich der gesellschaftliche Wandel des Landes mit all seinen Konflikten. Inmitten zerfallender Altbauten entstehen neue Wohnungen für die wohlhabende Mittelschicht. Direkt gegenüber dem baufälligen Gebäude des Mieterkomitees wurde inzwischen ein Glaspalast hochgezogen. In dem Bürohaus residiert ausgerechnet eine Finanzzeitung – der Name: “Puls Biznesu” – am Puls der Wirtschaft.
http://www.spiegel.de/wirtschaft/sozial … 33869.html
Die Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk will das Renteneintrittsalter von derzeit 65 Jahren bei Männern und 60 Jahren bei Frauen auf 67 anheben – Teil der Modernisierungspolitik, die die liberale Führung ihrem Land seit einigen Jahren verordnet hat und für die sie international eine Menge Lob bekommt.
Polen ist so gut durch die Finanzkrise gekommen wie kein anderes Land in Europa. Die Wirtschaft wächst stetig und hat eine einigermaßen wohlhabende Mittelschicht hervorgebracht. Die Fußball-EM, die hier in Warschau eröffnet wird, soll dem Land weiteren Schwung geben.
Doch längst nicht alle profitieren vom Wirtschaftswunder an der Weichsel. Es gibt auch viele Verlierer. Dazu gehören Menschen, die vom Staat abhängig sind: Rentner, Krankenschwestern. Ihre Einkommen halten mit dem Boom nicht mit.
Polen wird immer westlicher – vor allem in den großen Städten – und immer reicher. Doch zugleich klafft eine Lücke zwischen denen, die von der Modernisierung profitieren – und jenen, die zurückbleiben. “Die Schicht derer, die den Anschluss verpasst haben, wird immer größer”, sagt Cornelius Ochmann, Polen-Experte bei der Bertelsmann-Stiftung.
So kämpft die Solidarnosc heute nicht mehr gegen den Kommunismus, sondern gegen die Kollateralschäden des Kapitalismus.
“Der Papst weist uns den Weg”
Sie sei 1980 in die Solidarnosc eingetreten, erzählt Barbara Przybyz, gleich nach der Gründung. “Ich hatte damals gehofft, es sei möglich, die Kommunisten zu entmachten und ein würdiges Leben zu führen.” Doch die aktuelle liberale Regierung sei genau wie die Kommunisten: Sie verachte die einfachen Leute.
Bei Solidarnosc ist immer noch vieles ein bisschen anders als etwa bei westeuropäischen Gewerkschaften. Viele Mitglieder wählen konservativ. Während der Kundgebung vor dem Parlament wird regelmäßig gebetet. Ein Mann trägt ein Holzkreuz vor sich her – darüber ein Schild mit dem Foto des verstorbenen polnischen Papstes Johannes Paul II. und der Aufschrift “Gott, Ehre, Vaterland”. In der IG Metall würde man so etwas wohl vergeblich suchen.
“Der Papst weist uns den Weg”, sagt ein anderer Mann. Es müsse wieder um Werte wie Ehrlichkeit gehen, die verloren gegangen seien im neuen Polen. Seinen Namen will der Mann nicht nennen. Aber er erzählt, dass er in einer Fabrik in Breslau arbeitet und Kühlschränke für eine amerikanische Firma herstellt. “Noch zwei Jahre habe ich bis zur Rente”, sagte er. Dann werde er voraussichtlich etwa 800 Zloty im Monat bekommen – gut 200 Euro.
“Ich sehe nicht ein, dass ich so wenig Rente bekomme, nur weil die Kommunisten die Wirtschaft ruiniert haben”, schimpft der Mann und fuchtelt mit den Händen in der Luft herum. Er trägt eine beige Baseballkappe, über seine Trainingsjacke hatte er sich ein weißes Solidarnosc-Leibchen gezogen. Und nun wolle die liberale Regierung auch noch, dass seine Kinder länger arbeiten – nur um danach eine genau so klägliche Altersversorgung zu bekommen wie er. “Die einfachen Leute sind die Verlierer”, ruft er. “Durch die ganze Politik der Liberalisierung geht es ihnen schlechter.”
Die Leiche der Mieterin lag verbrannt im Wald
Die Wut sitzt tief bei denen, die sich abgehängt fühlen – und das sind nicht wenige. Im Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre ist die Arbeitslosigkeit zwar gesunken, doch sie liegt mit rund zehn Prozent noch immer vergleichsweise hoch. Nach den aktuellsten Daten der europäischen Statistikbehörde Eurostat waren 2010 mehr als 17 Prozent der Polen von Armut bedroht. Zum Vergleich: Im benachbarten Tschechien waren es nur neun Prozent.
Bemerkbar macht sich das soziale Gefälle zum Beispiel in Praga. Den Stadtteil im Osten Warschaus, ganz in der Nähe des neuen Fußballlstadions, hatte die Modernisierung lange vergessen. Hier konnten die ärmeren Teile der Bevölkerung billig in runtergekommenen städtischen Wohnungen leben – bis vor drei Jahren.
“2009 gab es einen riesigen Sprung bei den Mieten”, sagt Jakub Gawlikowski vom Komitee zur Stärkung der Mieterrechte. “Plötzlich waren die Wohnungen um 200 oder 300 Prozent teurer. Viele der alten Bewohner konnten das nicht mehr bezahlen und wurden vor die Tür gesetzt.”
Damals gründete Jakub zusammen mit anderen Leuten aus dem Stadtteil das Mieterkomitee. Sie wollten etwas tun gegen das von ihnen empfundene Unrecht, organisierten Sitzblockaden bei Zwangräumungen und richteten eine Beratungsstelle für Mieter ein. Der kleine Raum liegt im Erdgeschoss eines verfallenden Gebäudes. Außen bröckelt der Putz von der Fassade, drinnen stehen zwei zerschlissene Sofas, ein paar alte Sessel mit Blümchenmuster, ein Holztisch und zwei Stühle. An der Wand hängen Protestplakate, auf denen Leute ihre Fäuste Richtung Himmel recken – und zwei Schwarzweißfotos von einer Frau.
“Eine ehemalige Mieterin”, sagt Jakub. “Sie war die letzte in ihrem Haus und hat sich widersetzt, als der neue Eigentümer sie rauswerfen wollte.” Vergangenes Jahr habe man sie im Wald gefunden, verbrannt. Selbstmord, sagen die Behörden. Jakub und seine Mitstreiter glauben nicht daran.
Jakub, ein junger Mann mit braunen Locken und Kapuzenpulli, sitzt auf einem der beiden Sofas, neben ihm ein älterer Herr mit grauem Haar und schwarzem Schnauzbart: Marek Jasinski, auch er gehört zum Komitee. Zusammen beraten die beiden verzweifelte Mieter, denen die Zwangsräumung droht. “Es werden immer mehr”, sagt Marek. 200 Leute pro Monat suchten mittlerweile hier Hilfe.
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